«…so dass wir den Kopf frei haben», hatte mir C. während seinem Crowdfunding für die Republik geschrieben. Lange hatte ich darüber nachgedacht, wie er das wohl meint. Frei wofür? Und wie? Die Rede war von Facebook, von meiner Hassliebe zum grossen sozialen Netzwerk und davon, dass sie dort in jenem Schreibprojekt auf Werbung verzichten wollen und doch in den von Werbung gefluteten Timelines so omnipräsent sind wie Katzenbilder, Food Porn und all die exotischen Strände, die ich gar nicht sehen will. Denn «das, was du weisst, verändert das, was du siehst» – oder für diesen Fall: Das, was du siehst, verändert das, was du zu wissen glaubst.
Am 14. Mai hatte ich diese Zeilen an Dich begonnen, liebe F., denn auch ich wollte irgendwie den Kopf frei haben. Mehr als zwei Monate sind seither vergangen und ich hatte ihn selten frei, den Kopf. Bis heute. Heute hat sich etwas geklärt in meinem Kopf, an einem Sonntag im Juli ohne viel Sonne, dafür innen aufgehellt. «Wieso hinterfragst du ständig?», hattest Du diese Tage geschrieben auf meine Frage, wer ich denn sei, dieses Ich, dort bei Dir. Je länger wir uns geschrieben haben, desto ratloser wurde ich, wenn Deine Antworten nicht in mein Bild passen wollten vom Leben, von Existenz und Existenziellem. Ich glaube, seit heute ein besseres Gefühl für die vermeintlich gemeinsame Sphäre zu haben, die sich mit uns erschaffen hat. Es sind zwei Welten. Es sind zwei Erfahrungswelten. C. kennt sie, meine Erfahrungswelt, auf jeden Fall jene aus Beruf und Berufung. Du wirst sie nie kennen, nie kennen müssen. Das ist gut so. Es hält Dir den Kopf frei.
Über das Tom-Waits-Gefühl hatten wir geschrieben und dann gesprochen nach unserem Kino-Besuch. Danke nochmals, hat gut getan! Ich hatte ja wieder und wieder versucht, ihn zu erklären, diesen «Tommy», wie Du ihn nennst, versucht, ihn mit uns in Verbindung zu bringen. Doch Tom ist nicht Tommy!
Als Du Tage zuvor gefragt hattest, «was ist denn bei Dir das eigentliche Problem? Deine Vergangenheit? Das Jetzt? Die Zukunft?», da hatte ich einmal mehr mit mir gerungen und erklärt und Rechtfertigungen gesucht für das «eigentliche Problem». Ich frage dann nach einem Schreib-Thema und Du sagst am anderen Morgen im Chat, «…nun, wie wärs mit: was sind die Probleme der/des Menschen im Vergleich mit der Grösse des Kosmos und der kurzen Zeitspanne, die er auf Erden lebt?» – ich sage noch: Dieses Thema traust Du mir zu? Und erkläre wieder: Ich sehe den Baum da draussen, den ich gepflanzt habe. Ich staune ab der Grösse und der wagen Vorstellung, dass er, eine Sequoia giganteum, mich um viele hundert Jahre wird überleben können, wenn man ihn in Ruhe lässt. ER ist Teil meines Kosmos… Ich werde es versuchen mit jenem Kosmos, an den Du wohl denkst – und denke doch immer wieder, auch jetzt, es geht um Nähe und Distanz, auch bei Dir! Du, Minuten später: «Ich meine damit diese doofen alltäglichen und v.a. Luxusproblemchen der Menschen.» Da war ich am Ende, das Verständnis am Ende. Ich soll Dir Menschen mit Luxusproblemen erklären? Was haben sie (und jene Menschen) mit meinem eigentlichen Problem zu tun? Ich war ratlos. Bis heute, bis Du schreibst…
«Hey, der muss auch zu seinem Geld kommen!» (jener mit Deiner Erfahrungswelt aus Beruf und Berufung) und «Tja, Vooorsicht bei der Berufswahl!», mitsamt dem augenzwinkernden Smiley. Da verstand ich, denn: Ich hatte keine Wahl, keine Berufswahl. Jene Wahl war und ist meine Sehnsucht, meine Berufung, wie ich noch heute denke und glaube. Ich hatte es wieder und wieder erzählt und angenommen, Du würdest dann verstehen, von welcher Realität ich spreche. Weil es zwei Welten sind, ist Nähe und Distanz wohl auch Dein und mein Thema, aber jedem von uns auf seine Art (auch gut, so können wir uns etwas erzählen aus den Welten). Du hast keine Sehnsucht nach jener Wahl, weil Du in ihr lebst, in jener Welt. Also stimmt wohl auch: Das, was du kennst, verändert das, was du denkst, das, wonach du fragst und hauptsächlich und vor allem das, was du verstehst. Ich kenne sie nicht, jene Welt. Ich sehe sie in Dir und mit Dir und mache mir ein Bild, das mich denken lässt, Du könntest mich verstehen. Du hast wohl ein Bild meiner Sehnsucht, das Dich fragen lässt nach «dem eigentlichen Problem», nach Vergangenheit, nach dem Jetzt und der Zukunft und nach dem Sinn von Luxusproblemen. Dass Dein Nachbar meine Welt kennt hat mich erst noch darin bestärkt, glauben zu wollen, Du würdest mich verstehen. Nur: Er hatte vielleicht die Wahl und darum keine Sehnsucht. Sehnsucht macht den Kopf nicht frei. Sehnsucht setzt sich hin im Kopf und wartet darauf, verstanden und befreit zu werden. Und so benutzt das Ich Namen wie Tom oder Tommy und denkt, das Du wisse dann, wer und was gemeint ist.
«Der Mensch wird am Du zum Ich», ein Zitat des Philosophen Martin Buber, habe ich diesem Gefäss einmal als Motto gegeben. Es ist mir lieb und gleichzeitig zum Verhängnis geworden, weil ich gehofft hatte, jenes Du hätte etwas zu tun mit der Sehnsucht, die in meinem Kopf sitzt. Jetzt verstehe ich es besser: Die Sehnsucht bin nicht ich. Sie sitzt einfach da. Und ich bin nicht frei im Kopf. So stimmt es also doch, wenn Du sagst, ich würde in erster Linie für mich schreiben. So gesehen schreibe ich Dir, weil die Sehnsucht mich gezwungen hat, Dir (diesem Bild in mir von Dir) für sich zu schreiben. Und sonst? Wer ich denn sei, Ich bei Dir? Du sagst: «en liebe Cheib». Ja, das bin ich. Und sonst? Wie befreie ich den Kopf, so dass ich nicht mehr hinterfrage, nicht mehr frage, sondern eben mein Ich lebe?
Es habe mit Initiation zu tun, was ich hier treibe, sagte A. nach seiner Führung durch den «Schreibrausch» im Strauhof. Er war mir auf der Spur. Es geht nicht darum, die Wahl zu haben, es geht darum, zu leben, was das Leben gewählt hat.
Ich hoffe, Du magst es dann, dieses Ich. ▬