Regenwaldnacht

Guten Tag F.

Man kann nicht nicht kom­mu­ni­zie­ren, hat Paul Watzlawick gesagt; die ers­te sei­ner fünf Grundregeln mensch­li­cher Kommunikation. Pragmatisches Axiom. Paradox.

Man kann sich nicht nicht ver­hal­ten – genau­so kann man nicht nicht kom­mu­ni­zie­ren.

Deine Antworten sind wie­der spär­li­cher. Es steht viel zwi­schen den Zeilen. Nicht Du beginnst, Du reagierst. Deine Antworten sind wohl über­legt. Eigentlich nicht spär­lich, son­dern spar­sa­mer dosiert. Wohlwollend. Du beschleu­nigst nicht. Ich seh­ne mich nach der Antwort, wenn ich fra­ge und Du die Frage ein­fach im Raum ste­hen lässt. Ich blei­be frei, mir eine Antwort zurecht­zu­le­gen.

Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, sagt er auch. Die zwei­te Regel. Deine Fragen und Antworten klam­mern sich manch­mal an den Inhalt, Beziehung soll war­ten, kann war­ten. Du schreibst: «Manchmal sind “Dinge” eben ein­fach nur “Dinge”, ein Ex eben ein­fach nur ein Ex. Du erwähnst, Dir ein per­sön­li­ches Stoppwort gegen nega­ti­ve Gedanken aus­ge­dacht zu haben. Du fragst nach mei­nem Stoppwort…»

Es ist bald zwei Uhr. Die Fotografin hat kurz nach Mitternacht einen Hinweis auf ihre aktu­el­le Arbeit gemailt. Kommunikation ist immer Ursache und Wirkung. Die drit­te Regel. Ich zei­ge Reaktion, habe sofort ihre Website geöff­net. Mitten in der Legende zu den Portraits steht: «Durch die dunk­le Umgebung und die plötz­li­che Ruhe ent­steht ein Zwischenraum.» – Es ist ruhig bei mir.

Alleine habe ich mehr als Zwischenraum. Unendlichkeit. Mein Universum!

Menschliche Kommunikation bedient sich ana­lo­ger und digi­ta­ler Modalitäten. Das vier­te Axiom. Bei Paul Watzlawick steht: «Die digi­ta­le Kommunikation ver­fügt über eine kom­ple­xe und logi­sche Syntax, ent­behrt aber auf dem Gebiet der Beziehungen einer Semantik.» Und wei­ter: «Die ana­lo­ge Kommunikation ver­fügt über ein sol­ches seman­ti­sches Potenzial auf dem Gebiet der Beziehungen, ent­behrt aber einer Syntax, die eine ein­deu­ti­ge Definition der Natur von Beziehungen leis­ten könn­te.»

Mit ana­lo­gen Elementen wird häu­fig die Beziehungsebene ver­mit­telt, mit digi­ta­len die Inhaltsebene.

«Es gibt Tränen des Schmerzes und der Freude und ein Lächeln kann Sympathie oder Verachtung aus­drü­cken. Analoge Kommunikation ist mehr­deu­tig und kann unter­schied­lich ent­schlüs­selt werden. Durch mög­li­che Fehlinterpretationen kön­nen Konflikte zwi­schen den Kommunikationspartnern ent­ste­hen» – oder aber ver­mie­den werden, den­ke ich. Wir mai­len uns. Ab und an ein­zel­ne Worte. «Ja.», hat­te ich geschrie­ben. Deine Frage war: «Gefallen sie dir denn?» Ein ande­res Mal schreibst Du: “«Ok!» Gesendet mit mei­nem iPhone.” Es gibt kein Telefongespräch, kei­ne miss­ver­stan­de­ne Träne und kein auf­mun­tern­des Lächeln. Wir haben uns ein­mal getrof­fen, woll­ten uns unter dem Engel im Hauptbahnhof begeg­nen. Dann Deine Frage ganz kurz vor vier Uhr: «Kennst Du die Safari-Bar?» – «Ja, so eine freund­schaft­li­che Umarmung wäre gar nicht schlecht.» – dies war Deine Nachricht vor bald einem Jahr. – Wir hat­ten uns dann kurz umarmt in der Safari-Bar

Und: Wir hat­ten gelacht. Du hat­test ges­ti­ku­liert. Ich hat­te noch in der glei­chen Nacht geschrie­ben. Wunderbar!

Kommunikation ist sym­me­trisch oder kom­ple­men­tär. Die fünf­te Regel. «Beziehungen zwi­schen Partnern basie­ren ent­we­der auf Gleichheit oder auf Unterschiedlichkeit.» Wir sind Kommunikationspartner. «Wie kann man einen Menschen arsch­kalt links lie­gen las­sen, wenn die roman­ti­sche Liebe nicht gegen­sei­tig ist?» schreibst Du vor ein paar Stunden. Erinnerst Du Dich: «…sooo schnäll wirsch mi nöd los!»?

Ich den­ke und glau­be: eine ech­te Beziehung ist nicht roman­tisch, Momente sind roman­tisch, hat­te ich Dir geschrie­ben – Liebst Du?…

Drei Uhr. Unendlich Raum und Zeit. Die Regentropfen schla­gen spar­sam gegen die Fenster. Ich war ges­tern mit D. im Regenwald, im Masoala-Regenwald. Ich hat­te ihn gebe­ten, die Augen zu schlies­sen und sich blind in die Halle füh­ren zu las­sen. Er hat sich auf alles ein­ge­las­sen; die Wärme im Gesicht, Vogelgezwitscher, Unebenheit unter den Füssen… (D. trägt zur Zeit an einem Fuss kei­nen soli­den Schuh, weil ein Band gezerrt ist.) Er hat sich auf alles ein­ge­las­sen. Wir sind dann die Wendeltreppe hoch­ge­stie­gen bis zur Plattform – als er die Augen geöff­net hat­te, war es eine neue Welt. Staunen. Freundschaftliche Begegnung.

Ich habe jenes Gefühl dank­bar mit­ge­nom­men in die Nacht. Regenwaldnacht. Du schläfst. Ich begeg­ne Dir. «Nichtsdestotrotz hof­fe ich, dass du mein Mail ernst genom­men hast.» Ja, ich begeg­ne Dir ernst­haft. Wohlwollend. Dankbar.

Manchmal, den­ke ich, ist unse­re Kommunikation sym­me­trisch – manch­mal ist sie kom­ple­men­tär. Wir schrei­ben seit lan­ger Zeit. Kürzer oder län­ger. Sachlich. Dann fra­gend, emo­tio­nal. «Ich wün­sche Ihnen einen erfreu­li­chen Donnerstag!» stand am Schluss mei­nes Mails vom 21. Januar 2016 – ja, das wün­sche ich Dir heu­te auch!

«Eine Störung liegt dann vor, wenn es zu einer sym­me­tri­schen Eskalation kommt, d. h. die Partner ver­su­chen sich gegen­sei­tig “aus­zu­ste­chen”. Eine sehr star­re Komplementarität fin­det man in Mutter-Tochter-Beziehungen. Die Individuen in der Mutter-Tochter-Beziehung sind unter­schied­lich, … hier gibt es einen pri­mä­ren und einen sekun­dä­ren Partner…» – Du schreibst: «Ich hab mal als Kind mei­ne Mutter zu mei­ner Schwester sagen hören: die kann man ein­fach nicht gern haben.»

Meine Gedanken flie­gen. Wort fügt sich an Wort. Das Gespräch mit dem Pfleger hat den Kopfschmerz gänz­lich ver­drängt. Spärliche Regentropfen. Es kommt gut!

Dies zum Schluss: «Eine sym­me­tri­sche Beziehungsform zeich­net sich dadurch aus, dass die Partner sich bemü­hen, Ungleichheiten unter­ein­an­der zu mini­mie­ren (Streben nach Gleichheit).»

Vier Uhr. Schlaflos ohne Müdigkeit. Du schläfst. Ich wün­sche Dir von Herzen einen erfreu­li­chen Donnerstag.

Liebe Grüsse!  ▬

PS: Wann sehen wir uns?


Auf was ich noch hin­wei­sen woll­te…

  Im Rahmen der Sternstunde Philosopie von SRF gibt es ein inter­es­san­tes Gespräch mit dem Philosophen Alain de Botton (57:01)…
…er sagt, «Liebe ist immer kom­pli­ziert … Wir las­sen zu, dass Menschen aller Generationen sich ver­lie­ben, Beziehungen ein­ge­hen und hei­ra­ten, ohne die gerings­te Ahnung zu haben, wie das geht … Liebe ist kein Gefühl, Liebe ist eine Fähigkeit …»