365 neue Tage

Heu­te ist Zukunfts­tag, unter­des­sen im Herbst 2024. Auf Face­book könn­test Du Fotos sehen von wiss­be­gie­ri­gen Kin­dern und enga­gier­ten Erwach­senen. Jener Text, «Die Beschenk­te», ist nun sie­ben Jah­re alt – und das Kul­tur­haus Kos­mos gibt es nicht mehr. Am 5. Dezem­ber 2022 hat­te ich Dir geschrie­ben, «sie sind hüt mor­ge vor ver­schlos­se­ne tüüre gschtan­de». Dies hat­te mir eine ehe­ma­li­ge Mit­ar­bei­te­rin des Buch­la­dens im 1. Stock geschrie­ben. Die Kosmos-​Kultur AG war insol­vent. 71 Mit­ar­bei­ten­de hat­ten von einem Tag auf den ande­ren ihre Stel­le ver­lo­ren – und wir einen belieb­ten Ort fürs Ver­wei­len und Stö­bern in schö­nen Büchern.

Bru­no Deckert, Grün­der des sphè­res und Mit­erfinder des Kos­mos in Zürich ist im Janu­ar die­ses Jah­res auch von uns gegan­gen – wie so viel, wie so vie­les in die­sen lan­gen sie­ben Jah­ren.

Das klei­ne, fei­ne sphè­res im Haus «zürich­pa­ris» beim Escher-​Wyss-​Platz ist aber hier – und bleibt hof­fent­lich noch lan­ge hier. Dort war am Mon­tag die Rede von 365 neu­en Sei­ten von dir! Es ist ein Journaling-​Kalender mit Schreib­impulsen für die täg­li­che Aus­zeit – ein gut erdach­tes Werk von Jrene Rol­li und Andrea Kel­ler. «Mach die­se Box zu dei­nem Schatz­käst­chen!», schrei­ben sie mit Begeis­te­rung.

Ich mache dar­aus 365 neue Tage!

«Wer täg­lich kurz inne­hält und in sich hin­ein­horcht, lernt sich selbst bes­ser ken­nen, stärkt Selbst­wahr­neh­mung und Resi­li­enz.» Und «wer der rau­schen­den Schnel­lig­keit des Lebens mit Mus­se etwas Zeit für Noti­zen abtrotzt, gewinnt Lebens­qua­li­tät.» Ich füh­le mich bestärkt, hier wei­ter­zu­ma­chen. Auf­mun­te­rung pur. Ich dan­ke herz­lich.

Ein wenig hat mich ja am Mon­tag auch der Neid gepackt. Mir kam vor, als wür­den sie dort auf der Büh­ne von mei­ner Idee spre­chen, von mei­nem «Schreib­rausch». Aber was ist schon eine Idee? Als soge­nannt krea­ti­ver Mensch weiss ich, dass es kei­ne urei­ge­nen Ideen gibt. Ideen werden uns gege­ben, ein Geschenk der Natur. Wiki­pe­dia schreibt dazu:

«Der Aus­druck Idee hat all­ge­mein­sprach­lich und im phi­lo­so­phi­schen Gebrauch unter­schied­li­che Bedeu­tun­gen. All­ge­mein­sprach­lich ver­steht man dar­un­ter einen Gedan­ken, nach dem man han­deln kann, oder ein Leit­bild, an dem man sich ori­en­tiert. Die phi­lo­so­phi­sche Bedeu­tung wur­de in der Anti­ke von Pla­ton und dem Pla­to­nis­mus geprägt. In jener Leh­re sind Ideen unwan­del­ba­re, nur geis­tig erfass­bare Urbil­der, die den sinn­lich wahr­nehm­ba­ren Phä­no­me­nen zugrun­de lie­gen. Die­ses Ideen­ver­ständ­nis wirk­te bis in die Neu­zeit nach, doch erhielt der Begriff „Idee“ in unter­schied­li­chen phi­lo­so­phi­schen Rich­tun­gen ver­schie­de­ne Inhal­te.»

Und so erscheint die­se Idee eben auch in unter­schied­li­chen For­men. Hier als Set­ting, das «defi­ni­tiv ein sen­si­ble­res Publi­kum braucht», wie S. am 25. Mai 2017 grad vor der Mit­tags­pau­se per E‑Mail geschrie­ben hat­te. «Nichts für ungut, sehr herz­lich», stand dort auch noch. Gewünscht hat­te ich mir etwas kon­struk­ti­ve Kri­tik, nicht nur «nichts für ungut». Und nun also «365 neue Sei­ten von dir!» – Jrene und Andrea haben defi­ni­tiv einen Weg und eine klar fass­ba­re Form gewählt, die leich­ter zugäng­lich ist. Bra­vo!

Ana­log statt digi­tal, hat­ten die bei­den Frau­en betont. Auch dies könn­te ich sofort mit­un­ter­schrei­ben.

Am 1. März 2017 hat­te mir M. geschrie­ben, «Du soll­test mal ein Buch schrei­ben». So ein Werk wäre dann ana­log. Aber A., die Ver­le­ge­rin hat­te mir (auch vor lan­ger Zeit) im Gar­ten gesagt, aus Brie­fen kön­ne man kein Buch machen.

Und dann erschien 2022 «Wir haben es nicht gut gemacht», der Brief­wechsel zwi­schen Inge­borg Bach­mann und Max Frisch. Also geht es doch. Von einem der bekann­tes­ten Brief­wechsel der Lite­ra­tur­ge­schich­te ist die Rede. So ist das mit den Ideen, sie gehen schon; man (oder frau) muss sie nur in Bewe­gung ver­set­zen. 😉

Was mache ich nun mit der Auf­mun­te­rung, was mache ich mit den 365 neu­en Tagen? Für den ersten Tag des nächs­ten Jah­res, der Neu­jahrs­tag ist ein Mitt­woch, geben sie einen ersten, posi­ti­ven Impuls:

Wofür bedan­ken sich Men­schen häu­fig bei mir?

Was ich jetzt schon weiss: Ich wäre sehr dank­bar für eine Reak­ti­on auf mei­nen Brief, einen rich­ti­gen ana­lo­gen Brief, den ich Dir am Mon­tag zuge­schickt habe. Ich bat Dich, mein Pro­jekt zu unter­stüt­zen – nicht «Brie­fe an F.», son­dern das, was ich als die Idee hin­ter die­sem Schreib­rausch beschrei­be. Dies habe ich Dir geschrie­ben, weil ich nun mehr Res­sour­cen brau­che, um kon­kret han­deln zu kön­nen – eine inni­ge Bit­te an Dich.

Jrene hat­te ich am Mon­tag ein Feed­back ver­spro­chen. Dies hat­ten sie sich wäh­rend der Prä­sen­ta­ti­on gewünscht. Also, sie­he oben, lie­be Jrene. Und in einem Wort: Bra­vo!

Mit lie­ben Grüs­sen, auch an Jrene und Andrea!  ▬

F. schreibt am nächs­ten Mor­gen …

Dan­ke für den Tipp. Und: Kalen­der ist bestellt. 🙂
Lie­be Grüs­se

PS: Schön, dass du wie­der schreibst!

Die Beschenkte

“ TWENTY YEARS FROM NOW YOU WILL BE MORE DISAPPOINTED BY THE THINGS THAT YOU DIDNʼT DO THAN THE ONES YOU DID DO. SO THROW OFF THE BOWLINES. SAIL AWAY FROM SAFE HARBOR. CATCH THE TRADE WINDS IN YOUR SAILS. EXPLORE. DREAM. DISCOVER.”

Mit die­sem Zitat hat­test Du mich heu­te ange­spro­chen, den Kon­takt im Chat wie­der auf­ge­nom­men. Ange­trof­fen hat­test Du mich auf hal­bem Weg. Ich lie­be die­se Art der Begeg­nung: Gedan­ken, die sich tref­fen, die erah­nen las­sen, dass es mehr gibt als die bewuss­te Absicht, als den ver­ein­bar­ten Plan und das, was zu tun ist. Es gibt ihn, den Raum im Kos­mos, in dem «es» uns begeg­net, wenn der Moment gekom­men zu sein scheint …

Ich woll­te Dich ja an jenen Ort ein­la­den, an dem ich für Dich die Wan­der Socie­ty ent­deckt hat­te. Du schreibst: «Wir sind bereits im Kos­mos.»

Ich gehe auf Dich zu, freue mich, Dich wie­der ein­mal zu sehen, zie­he mir die Müt­ze vom Kopf und weiss erst jetzt, war­um ich gezö­gert hat­te: Du hat­test Dich nicht gerührt. Nach kur­zem Blick­kon­takt mit etwas spit­zem Ton nur «Hal­lo», wor­auf ich Dich dann end­lich mit mei­ner Stim­me grüs­se. Wir ent­span­nen uns. Du rührst Dich trotz­dem nicht. Ich erwäh­ne, ihn dort drü­ben bei den Büchern gese­hen zu haben. Ja, er und ich, wir hat­ten Blick­kon­takt. Es war nicht schwie­rig, ihn zu erken­nen und er wird mei­nen Blick wohl ent­zif­fert haben, mei­nen etwas prü­fen­den Blick. Du erwähnst, ihn infor­miert zu haben. Du rührst Dich nicht. Ich hät­te Dich ger­ne umarmt. Freund­schaft­lich. Wor­über hast Du ihn infor­miert? Er wuss­te, dass ich kom­me, ja. Und?…

Mei­ne Geschen­ke wür­den ihn stö­ren, sagst Du. War­um weiss er von mei­nen Geschen­ken, fra­ge ich mich jetzt. Erzählst Du ihm von den Geschen­ken oder von der Freu­de, die sie in Dir aus­lö­sen? «Lieb von Dir», hat­test Du geschrie­ben, als der klei­ne Engel früh­mor­gens vor der Türe auf Dich gewar­tet hat­te. Erzählst Du das auch? Erzählst Du es, weil Du Dich von ihm getrennt hat­test, wie Du vor eini­gen Wochen geschrie­ben hat­test? Wür­de es ihm denn bes­ser gehen ohne mei­ne Geschen­ke? Kör­per­lich bes­ser? See­lisch bes­ser? Übri­gens: mich stört, dass er Dir die Füs­se mas­siert vor mei­nen Augen. Dies möch­te ich ja viel­leicht auch, Dir die Füs­se mas­sie­ren. Wür­de es mir bes­ser gehen, er täte es nicht? Möch­te er sich nicht vor­stel­len, auch einen Teil zu bekom­men von Dei­ner Freu­de an den Geschen­ken?

Was mir durch den Kopf geht: Hat er die Füs­se an sich genom­men, als ich mir an der Bar das Getränk geholt hat­te? Oder hast Du sie ihm auf sei­ne Bei­ne gelegt, um ein Zei­chen zu set­zen, um zu sagen, ich gehö­re zu ihm? Geht es dar­um, wer zu wem gehört? Oder geht es um die Freu­de, die bleibt, die sich aus­brei­tet?

Ben Moo­re erzählt unter­des­sen, wie die neu­en Tele­sko­pe mit gol­de­nen Spie­geln nach den Signa­tu­ren der uns bekann­ten Form von Leben im Uni­ver­sum suchen. Bis in etwa 20 Jah­ren wür­den wir es ent­de­cken, das Leben aus­ser­halb unse­rer Erde, behaup­tet er zuver­sicht­lich. Aber erst Mit­te die­ses Jahr­hun­derts wür­den wir dann ver­ste­hen, woher sie kommt, die­se Form des Lebens. Und in 50 Jah­ren hät­ten wir den Schlüs­sel zur Unsterb­lich­keit ent­deckt. Wol­len wir auch die­ses Geschenk? Geht es uns dann bes­ser?

Ich lese spät­nachts den Arti­kel noch­mals, den mir K. ver­gan­ge­nes Jahr zuge­sandt hat­te: «Die Ver­ant­wor­tung der Beschenk­ten» von Chris­toph Quarch. Er schreibt, ursprüng­lich sei das Schen­ken und das Sich-​beschenken-​lassen ein Gespräch, eine Kon­ver­sa­ti­on, bei der ein Mensch einem ande­ren durch das Geschenk etwas Wesent­li­ches sag­te, wor­auf der Beschenk­te Ant­wort gab, aber nicht durch eine Gegen­leis­tung, nicht durch einen Tausch und nicht durch Geld, son­dern ein­fach mit sei­nem Leben, mit sei­nem Tun und Las­sen.

Was hast Du gesagt? Was stört ihn an unse­rem Gespräch, an unse­rer Kon­ver­sa­ti­on? Ich wer­de mir das Gespräch mit Dir nicht ver­bie­ten las­sen – aus­ser es stört Dich, aus­ser ich stö­re Dich in Dei­nem Tun und Las­sen! Dann wer­de ich ver­stum­men und wei­ter­ge­hen auf mei­ner eige­nen Wan­de­rung. So hat­ten wir es ver­ein­bart. Solan­ge die Ver­ein­ba­rung gilt, solan­ge trägst Du Ver­ant­wor­tung. Du bist die Beschenk­te.

Mit lie­ben Grüs­sen, auch an ihn!  ▬

PS:

Lie­be S., hier hast Du eine Ant­wort auf jene Fra­ge, die Du vor Mona­ten gestellt hat­test, die Fra­ge, was er soll, die­ser «Schreib­rausch»:
Die­ses Pro­jekt soll mir den Blick schär­fen. Es soll klä­ren. Es soll mich hüten vor vor­ei­li­gen Schlüs­sen. Es soll Fra­gen stel­len. Und es soll mich immer wie­der ermu­ti­gen, neu begeg­nen zu kön­nen: to explo­re, to dream and to dis­co­ver!
Und gelingt es mir, so mag es dem Lesen­den als Geschenk dazu ver­hel­fen, es – das Schrei­ben – auch zu ver­su­chen; dies hof­fe ich!

Talking Letter Box

Guten Abend lie­be F.

«Beau­tiful octo­ber» schreibst Du im Chat. Es ist ein mil­der, son­ni­ger Tag, den ich oben spa­zie­rend auf dem Pla­ne­ten­weg zur Fel­se­n­egg begon­nen habe. Du gehst, wie ges­tern, Dei­nen Weg unten in der Stadt, am Hir­schen­gra­ben. Dein Bild als Ant­wort auf mein Bild hat es mir erzählt. Und die Auf­ein­an­der­fol­ge von Bil­dern und Wor­ten schien mir so klä­rend zu sein, dass ich auf dem Rück­weg dach­te, die­se Gedan­ken könn­ten es wert sein, wie­der ein­mal hier auf­zu­tau­chen.

Mit ein Grund, in den ver­gan­ge­nen Wochen gegen­über einer mir nicht bekann­ten Leser­schaft Zurück­hal­tung zu üben war sicher auch die Reak­ti­on einer in Zürich gut ver­netz­ten Autorin: «Also, ich habe es ver­sucht, mehr­fach, min­des­tens vier mal drei Minu­ten, aber ich kom­me da nicht rein! Bezie­hungs­wei­se ich ver­ste­he a) nicht, was das Pro­jekt will (das wün­sche ich mir in drei Sät­zen, ganz am Anfang und ganz klar, nicht in vie­len aus­führ­li­chen Punk­ten) und an wen es sich rich­tet. Ist es fik­tiv? Ist es dein Tage­buch? Ist es eine Art von The­ra­pie­an­ord­nung? Und was soll ich als Lese­rin dar­in zu suchen haben? Wahr­schein­lich bin ich ein­fach zu doof dazu. Und von mei­ner Natur her viel zu unge­dul­dig. Du brauchst defi­ni­tiv ein sen­si­ble­res Publi­kum, als ich das bin. Nichts für ungut, sehr herz­lich, S.» Gele­sen hat­te sie die Idee zu die­sem «Schreib­rausch», die ich unter­des­sen auch schon bei­na­he ganz ver­bor­gen habe, viel­leicht, um mich für den Moment zu schüt­zen, Raum zu schaf­fen für neu­en Mut, den Mut dazu, eben nicht zu wis­sen, was es genau will, an wen es sich rich­tet, wel­che offen­sicht­li­che Form es ein­mal fin­den könn­te. Ich fin­de S. übri­gens über­haupt nicht doof oder zu doof, wenn, dann ab und an etwas zu selbst­be­zo­gen, aber dies gehört wohl bei­na­he zwin­gend zum Beruf eines Men­schen, der sich ger­ne und häu­fig in sozia­len Medi­en zeigt, sich selbst vir­tu­ell auf die Büh­ne stellt. Ich den­ke heu­te, es war rich­tig, auf jenes Mail nicht geant­wor­tet zu haben, kei­ne Recht­fer­ti­gung gesucht zu haben und eben ein­fach die Zeit Wun­den hei­len zu las­sen. Ja, ich war damals, mehr als vier Mona­te ist es jetzt her, ver­un­si­chert, irri­tiert; der Nächs­ten­lie­be beraubt schien ich mir und mir mein Pro­jekt zu sein. So hat­te ich Dir wie­der per­sön­lich geschrie­ben, mei­ne Zunei­gung auch wie­der als Brot in Dei­nen Kas­ten mit jener klei­nen Tür gelegt, die sich immer wie­der ganz von selbst öff­net, als woll­te Dei­ne Let­ter Box das klei­ne Geheim­nis gleich wie­der preis­ge­ben, in die Welt rufen, «er hat es wie­der getan, schaut her, er kann und will es nicht blei­ben las­sen». Ja, der klei­ne metal­le­ne Kas­ten hät­te mich war­nen sol­len. «Schau her, dies ist die Gren­ze, da wo ich unver­rück­bar ste­he, bis hier­hin und nicht wei­ter! Hörst Du mich?»

Gefühlt hat­te ich es mit jedem Schritt hin­ter die­se «spre­chen­de» Box nach jenem Besuch im März, wenn ich manch­mal bei Dei­nem Haus vor­bei­ging mit Blu­men oder was immer, dem Impuls fol­gend, wenn Du, wie ich wohl­weis­lich wuss­te, nicht zu Hau­se warst. Damals im März bist Du mir ent­ge­gen­ge­kom­men, hast mich mit einer Umar­mung will­kom­men­ge­heis­sen. Es war nicht unbe­schwert, der mor­gend­li­che Mail-​Verkehr muss­te klä­ren und vor­be­rei­ten, aber es war auch ein­fach Früh­ling und ein Moment, um etwas aus­zu­pro­bie­ren und mit weni­ger wenn und aber in den Som­mer zu star­ten. Dann muss­te es gesche­hen, an einem Frei­tag­abend, als Herbst­be­ginn und Rück­zug. Ich sei respekt­los und hät­te eine Gren­ze über­schrit­ten, hat­test Du gesagt und auf Rück­fra­ge schrift­lich nach­ge­dop­pelt, nach­dem ich mit einer Blu­me, die Gedan­ken an ein Phal­lus­sym­bol auf­kei­men liess, gleich­zei­tig mit dem Piz­za­ku­rier vor Dei­ner Türe mei­ne Auf­war­tung mach­te. Sehr attrak­tiv hast Du aus­ge­se­hen, so im Trai­ner und mit Mas­ke im Haar, hat­te ich danach geschrie­ben und dafür ein «Dan­ke!» samt zwin­kern­dem Smi­ley erhal­ten. Aber die Gren­ze war über­schrit­ten und auch jetzt hät­te ich auf jede Recht­fer­ti­gung und Begrün­dung wohl bes­ser ver­zich­ten sol­len. Ich hat­te es ja «gewusst» – Du wür­dest wohl sagen, ich hät­te nicht zuge­hört, Dir nicht, von mei­nem Zwie­ge­spräch mit Dei­nem klei­nen Kas­ten hat­test Du ja nichts wis­sen kön­nen. Ich höre Dir immer zu, wid­me jedem Wort und jeder Zei­le von Dir gros­se Auf­merk­sam­keit, muss­te aber die­se Gren­ze über­schrei­ten, um mir selbst treu zu sein, um mei­nem Gefühl Respekt zu zol­len. Wir sind anschei­nend erfah­ren und ver­traut genug, um den Dia­log fort­zu­füh­ren. Ich dan­ke Dir!

Der Sozio­lo­ge sag­te heu­te im Inter­view: «Manch­mal rücken wir etwas weg, weil es uns nah ist. Und umge­kehrt. Zudem braucht Nähe immer wie­der Distanz und neue Impul­se.» Ja, über Nähe und Distanz hat­ten wir uns auch schon aus­ge­tauscht. Und über Begriff­lich­keit. Bist Du gesagt hat­test, Freund­schaft müs­se nicht dis­ku­tiert werden. Ein­ver­stan­den, sie muss nicht dis­ku­tiert werden, wir könn­ten uns aber dar­über aus­tau­schen, was es heisst, «inter­es­sant, inter­es­siert und lie­bens­wür­dig zu sein». «Es war mir nicht klar, dass es für Dich so ein gros­ses The­ma ist, das mit Dir und mir.» Soll es Dir denn klar sein? Ich stel­le sel­ten rhe­to­ri­sche Fra­gen. Was nicht heisst, wir hat­ten dies vor lan­ger Zeit ver­ein­bart, dass eine Fra­ge zwin­gend beant­wor­tet werden muss. Fra­gen sol­len inspi­rie­ren, kei­ner Frei­heit berau­ben. Ja, Du und ich oder ein­fach der Dia­log ist mir ein gros­ses The­ma, ein wert­vol­les Gut, dem ich hier ja auch «eine Büh­ne» gege­ben habe.

Zwei Wor­te, die mir begeg­net sind: Ver­bin­dung und Schnitt­stel­le. Ich hat­te Dir spät­abends geschrie­ben, «Ver­bun­den­heit ist der Grund, war­um wir hier sind» und damit Bre­né Brown zitiert. Du schreibst, «so kann man Geschlechts­ver­kehr auch nen­nen, ja». Ich erwi­de­re, «wie bit­te?!?» – und konn­te herz­haft lachen. Du hast uns die Leich­tig­keit zurück­ge­ge­ben. Auf «Gute Nacht» folg­te wie­der «Guten Mor­gen».

Heu­te fra­ge ich, «d.h. Du hast am See über­nach­tet?!?», wor­auf Du ant­wor­test, «abge­se­hen davon, dass Dich das nichts angeht, nein.» Ich erwäh­ne, ich hät­te nur nach dem Ort gefragt und nicht nach einer «Ver­bin­dung», wor­auf Du sagst, das eine lies­se meis­tens aufs Ande­re schlies­sen… Was ist «das Ande­re»? Ist Sexua­li­tät die Form der Ver­bin­dung, nach der ich ver­meint­lich gefragt hat­te? Sind Blu­men, Brot und Brie­fe die Vor­bo­ten zur «Ver­bin­dung»? Sind Mann und Weib dazu bestimmt? So oder so? Ich möch­te sie nicht, die­se «Ver­bin­dung», nicht mit Dir. Dei­ne Stim­me, die Du mir schenkst, mit der Du mir damals kurz vor Abfahrt des Zuges auf Per­ron 4 vor­ge­le­sen hat­test, sie ist mir Ero­tik genug. Dei­ne Augen, die mir durch ein Fens­ter vor dem Kino-​Besuch ent­ge­gen­la­chen, die Ahnung eines Geru­ches ist mir Freu­de und Genuss genug. Sie erlau­ben kei­ne Erlö­sung, kei­nen Höhe­punkt. Nur der Zau­ber, das Geheim­nis las­sen die Leben­dig­keit aus­dau­ernd wir­ken. Ich will hier und im Dia­log eine Schnitt­stel­le mit Dir und zu Dir pfle­gen, kei­ne Ver­bin­dung, die bin­det.

Ich wün­sche Dir einen wun­der­schö­nen Som­mer­aus­klang!  ▬

in zwei Welten

«…so dass wir den Kopf frei haben», hat­te mir C. wäh­rend sei­nem Crowd­fun­ding für die Repu­blik geschrie­ben. Lan­ge hat­te ich dar­über nach­ge­dacht, wie er das wohl meint. Frei wofür? Und wie? Die Rede war von Face­book, von mei­ner Hass­lie­be zum gros­sen sozia­len Netz­werk und davon, dass sie dort in jenem Schreib­pro­jekt auf Wer­bung ver­zich­ten wol­len und doch in den von Wer­bung geflu­te­ten Time­lines so omni­prä­sent sind wie Kat­zen­bil­der, Food Porn und all die exo­ti­schen Strän­de, die ich gar nicht sehen will. Denn «das, was du weisst, ver­än­dert das, was du siehst» – oder für die­sen Fall: Das, was du siehst, ver­än­dert das, was du zu wis­sen glaubst.

Am 14. Mai hat­te ich die­se Zei­len an Dich begon­nen, lie­be F., denn auch ich woll­te irgend­wie den Kopf frei haben. Mehr als zwei Mona­te sind seit­her ver­gan­gen und ich hat­te ihn sel­ten frei, den Kopf. Bis heu­te. Heu­te hat sich etwas geklärt in mei­nem Kopf, an einem Sonn­tag im Juli ohne viel Son­ne, dafür innen auf­ge­hellt. «Wie­so hin­ter­fragst du stän­dig?», hat­test Du die­se Tage geschrie­ben auf mei­ne Fra­ge, wer ich denn sei, die­ses Ich, dort bei Dir. Je län­ger wir uns geschrie­ben haben, des­to rat­lo­ser wur­de ich, wenn Dei­ne Ant­wor­ten nicht in mein Bild pas­sen woll­ten vom Leben, von Exis­tenz und Exis­ten­zi­el­lem. Ich glau­be, seit heu­te ein bes­se­res Gefühl für die ver­meint­lich gemein­sa­me Sphä­re zu haben, die sich mit uns erschaf­fen hat. Es sind zwei Wel­ten. Es sind zwei Erfah­rungs­wel­ten. C. kennt sie, mei­ne Erfah­rungs­welt, auf jeden Fall jene aus Beruf und Beru­fung. Du wirst sie nie ken­nen, nie ken­nen müs­sen. Das ist gut so. Es hält Dir den Kopf frei.

Über das Tom-​Waits-​Gefühl hat­ten wir geschrie­ben und dann gespro­chen nach unse­rem Kino-​Besuch. Dan­ke noch­mals, hat gut getan! Ich hat­te ja wie­der und wie­der ver­sucht, ihn zu erklä­ren, die­sen «Tom­my», wie Du ihn nennst, ver­sucht, ihn mit uns in Ver­bin­dung zu brin­gen. Doch Tom ist nicht Tom­my!

Als Du Tage zuvor gefragt hat­test, «was ist denn bei Dir das eigent­li­che Pro­blem? Dei­ne Ver­gan­gen­heit? Das Jetzt? Die Zukunft?», da hat­te ich ein­mal mehr mit mir gerun­gen und erklärt und Recht­fer­ti­gun­gen gesucht für das «eigent­li­che Pro­blem». Ich fra­ge dann nach einem Schreib-​Thema und Du sagst am ande­ren Mor­gen im Chat, «…nun, wie wärs mit: was sind die Pro­ble­me der/​des Men­schen im Ver­gleich mit der Grös­se des Kos­mos und der kur­zen Zeit­span­ne, die er auf Erden lebt?» – ich sage noch: Die­ses The­ma traust Du mir zu? Und erklä­re wie­der: Ich sehe den Baum da draus­sen, den ich gepflanzt habe. Ich stau­ne ab der Grös­se und der wagen Vor­stel­lung, dass er, eine Sequoia gigan­te­um, mich um vie­le hun­dert Jah­re wird über­le­ben kön­nen, wenn man ihn in Ruhe lässt. ER ist Teil mei­nes Kos­mos… Ich wer­de es ver­su­chen mit jenem Kos­mos, an den Du wohl denkst – und den­ke doch immer wie­der, auch jetzt, es geht um Nähe und Distanz, auch bei Dir! Du, Minu­ten spä­ter: «Ich mei­ne damit die­se doo­fen all­täg­li­chen und v.a. Luxus­pro­blem­chen der Men­schen.» Da war ich am Ende, das Ver­ständ­nis am Ende. Ich soll Dir Men­schen mit Luxus­pro­ble­men erklä­ren? Was haben sie (und jene Men­schen) mit mei­nem eigent­li­chen Pro­blem zu tun? Ich war rat­los. Bis heu­te, bis Du schreibst…

«Hey, der muss auch zu sei­nem Geld kom­men!» (jener mit Dei­ner Erfah­rungs­welt aus Beruf und Beru­fung) und «Tja, Voo­or­sicht bei der Berufs­wahl!», mit­samt dem augen­zwin­kern­den Smi­ley. Da ver­stand ich, denn: Ich hat­te kei­ne Wahl, kei­ne Berufs­wahl. Jene Wahl war und ist mei­ne Sehn­sucht, mei­ne Beru­fung, wie ich noch heu­te den­ke und glau­be. Ich hat­te es wie­der und wie­der erzählt und ange­nom­men, Du wür­dest dann ver­ste­hen, von wel­cher Rea­li­tät ich spre­che. Weil es zwei Wel­ten sind, ist Nähe und Distanz wohl auch Dein und mein The­ma, aber jedem von uns auf sei­ne Art (auch gut, so kön­nen wir uns etwas erzäh­len aus den Wel­ten). Du hast kei­ne Sehn­sucht nach jener Wahl, weil Du in ihr lebst, in jener Welt. Also stimmt wohl auch: Das, was du kennst, ver­än­dert das, was du denkst, das, wonach du fragst und haupt­säch­lich und vor allem das, was du ver­stehst. Ich ken­ne sie nicht, jene Welt. Ich sehe sie in Dir und mit Dir und mache mir ein Bild, das mich den­ken lässt, Du könn­test mich ver­ste­hen. Du hast wohl ein Bild mei­ner Sehn­sucht, das Dich fra­gen lässt nach «dem eigent­li­chen Pro­blem», nach Ver­gan­gen­heit, nach dem Jetzt und der Zukunft und nach dem Sinn von Luxus­pro­ble­men. Dass Dein Nach­bar mei­ne Welt kennt hat mich erst noch dar­in bestärkt, glau­ben zu wol­len, Du wür­dest mich ver­ste­hen. Nur: Er hat­te viel­leicht die Wahl und dar­um kei­ne Sehn­sucht. Sehn­sucht macht den Kopf nicht frei. Sehn­sucht setzt sich hin im Kopf und war­tet dar­auf, ver­stan­den und befreit zu werden. Und so benutzt das Ich Namen wie Tom oder Tom­my und denkt, das Du wis­se dann, wer und was gemeint ist.

«Der Mensch wird am Du zum Ich», ein Zitat des Phi­lo­so­phen Mar­tin Buber, habe ich die­sem Gefäss ein­mal als Mot­to gege­ben. Es ist mir lieb und gleich­zei­tig zum Ver­häng­nis gewor­den, weil ich gehofft hat­te, jenes Du hät­te etwas zu tun mit der Sehn­sucht, die in mei­nem Kopf sitzt. Jetzt ver­ste­he ich es bes­ser: Die Sehn­sucht bin nicht ich. Sie sitzt ein­fach da. Und ich bin nicht frei im Kopf. So stimmt es also doch, wenn Du sagst, ich wür­de in ers­ter Linie für mich schrei­ben. So gese­hen schrei­be ich Dir, weil die Sehn­sucht mich gezwun­gen hat, Dir (die­sem Bild in mir von Dir) für sich zu schrei­ben. Und sonst? Wer ich denn sei, Ich bei Dir? Du sagst: «en lie­be Cheib». Ja, das bin ich. Und sonst? Wie befreie ich den Kopf, so dass ich nicht mehr hin­ter­fra­ge, nicht mehr fra­ge, son­dern eben mein Ich lebe?

Es habe mit Initia­ti­on zu tun, was ich hier trei­be, sag­te A. nach sei­ner Füh­rung durch den «Schreib­rausch» im Strau­hof. Er war mir auf der Spur. Es geht nicht dar­um, die Wahl zu haben, es geht dar­um, zu leben, was das Leben gewählt hat.

Ich hof­fe, Du magst es dann, die­ses Ich.  ▬

sich fremd werden

Du bist jetzt über den Wol­ken und kommst mit neu­en Ein­drü­cken zurück in den Schnee aus der Käl­te im hohen Nor­den. Ich sei der Spin­ner, hat­test Du noch geschrie­ben. Aber weisst Du, lie­be F., ich habe Dich ver­misst, ganz ohne All­tag und doch nicht fremd. «Guten Mor­gen» habe ich ver­misst und «gute Nacht».

Mehr Ein­sicht ist mir begeg­net über die­se Oster­ta­ge, die­se scheint mir wich­tig: «Damit sind sie beson­ders auf ande­re Men­schen ange­wie­sen, die ihnen Sicher­heit geben; wenn das nicht pas­siert, etwa weil die Eltern emo­tio­nal nicht aus­rei­chend ver­füg­bar waren, ent­wi­ckeln sie ein höhe­res Risi­ko für die Erkran­kung.»

60 Tage ist es her: «Ich bin sehr dar­an inter­es­siert, mit Dir dar­über zu spre­chen. Ich habe sonst nie­mand, der sich dazu eig­net.» Du woll­test mehr erfah­ren über Ani­mus und Ani­ma …

Defi­ni­tiv, hat­test Du gesagt, dann war ich in den Wol­ken, nicht uner­reich­bar, mir aber ziem­lich fremd. Zu schla­fen, sei jetzt wich­tig, hat man mir gesagt und gleich nach­ge­hol­fen, zuerst sanft, dann ziem­lich vehe­ment. So hat­te ich geschrie­ben, die Lie­be sei nicht fer­tig, aber wohl am Ende. Scha­de, den­ke ich jetzt. Nun, viel­leicht habe ich ja eine zwei­te Chan­ce, pas­send grad zu Ostern.

«Auch mir kannst Du Fra­gen stel­len. Was immer Du willst.» Darf ich wie­der, oder immer noch? Sind wir uns wirk­lich fremd?

«Es ist bekannt, dass Deper­so­na­li­sa­ti­on in indi­vi­dua­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten wie der unse­ren viel häu­fi­ger vor­kommt als in kol­lek­ti­vis­ti­schen wie in Latein­ame­ri­ka. Man erklärt das so, dass in indi­vi­dua­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten der Ein­zel­ne weit mehr tun muss, um sozia­le Kon­tak­te zu knüp­fen, um Gebor­gen­heit zu erle­ben.» Dies stand an ande­rer Stel­le.

Wenn nicht Latein­ame­ri­ka, dann doch Wien – dort geht der “Schreib­rausch” hin. Und weil ich Dich wie­der fra­gen will, und den Aus­tausch will ich auch, «via Mail oder via Tref­fen. Bezie­hungs­wei­se und/​oder…», so ist das jetzt, nun auch mit mir.

Die Nah­rungs­ket­te war abge­bro­chen, kommt es mir vor, ich muss­te wie­der­käu­en, wie das Reh, nur wei­ter oben, dort am Tor, an der Gren­ze zum bewuss­ten Sein, von mor­gens früh bis abends spät. So blieb ich still, bis auf den Chat mit Dir, dort war ich wirr, mir etwas fremd.

Bin jetzt in guten Hän­den. Sie ist jung, lacht schel­misch, herz­haft: «Ich weiss, wie du dich fühlst.» Ein Son­nen­schein. «Ob ich mich in sie ver­lie­ben könn­te?», das hat mich noch kei­ne gefragt, das ist Brot für die See­le, wie das Lieb­lings­bild von Dir!

Lass uns die­se Kunst ver­su­chen. Davon leben kann man nicht, aber Nah­rung ist es alle­mal. Ob hier, dort oder in Wien, auf jeden Fall mit Dir und gar nicht fremd. Haupt­sa­che, die Ket­te reisst nicht ab, so geht es allen bes­ser, nicht nur Dir und mir.

Ich dan­ke Dir!  ▬