365 neue Tage

Heute ist Zukunftstag, unter­des­sen im Herbst 2024. Auf Facebook könn­test Du Fotos sehen von wiss­be­gie­ri­gen Kindern und enga­gier­ten Erwachsenen. Jener Text, «Die Beschenkte», ist nun sie­ben Jahre alt – und das Kulturhaus Kosmos gibt es nicht mehr. Am 5. Dezember 2022 hat­te ich Dir geschrie­ben, «sie sind hüt mor­ge vor ver­schlos­se­ne tüüre gschtan­de». Dies hat­te mir eine ehe­ma­li­ge Mitarbeiterin des Buchladens im 1. Stock geschrie­ben. Die Kosmos-Kultur AG war insol­vent. 71 Mitarbeitende hat­ten von einem Tag auf den ande­ren ihre Stelle ver­lo­ren – und wir einen belieb­ten Ort fürs Verweilen und Stöbern in schö­nen Büchern.

Bruno Deckert, Gründer des sphè­res und Mit­erfinder des Kosmos in Zürich ist im Januar die­ses Jahres auch von uns gegan­gen – wie so viel, wie so vie­les in die­sen lan­gen sie­ben Jahren.

Das klei­ne, fei­ne sphè­res im Haus «zürich­pa­ris» beim Escher-Wyss-Platz ist aber hier – und bleibt hof­fent­lich noch lan­ge hier. Dort war am Montag die Rede von 365 neu­en Seiten von dir! Es ist ein Journaling-Kalender mit Schreib­impulsen für die täg­li­che Auszeit. Ein sehr gut erdach­tes Werk von Jrene Rolli und Andrea Keller. «Mach die­se Box zu dei­nem Schatzkästchen!», schrei­ben sie mit Begeisterung.

Ich mache dar­aus 365 neue Tage!

«Wer täg­lich kurz inne­hält und in sich hin­ein­horcht, lernt sich selbst bes­ser ken­nen, stärkt Selbstwahrnehmung und Resilienz.» Und «wer der rau­schen­den Schnelligkeit des Lebens mit Musse etwas Zeit für Notizen abtrotzt, gewinnt Lebensqualität.» Ich füh­le mich bestärkt, hier wei­ter­zu­ma­chen. Aufmunterung pur. Ich dan­ke herz­lich.

Ein wenig hat mich ja am Montag auch der Neid gepackt. Mir kam vor, als wür­den sie dort auf der Bühne von mei­ner Idee spre­chen, von mei­nem «Schreibrausch». Aber was ist schon eine Idee? Als soge­nannt krea­ti­ver Mensch weiss ich, dass es kei­ne urei­ge­nen Ideen gibt. Ideen werden uns gege­ben, ein Geschenk der Natur. Wikipedia schreibt dazu:

«Der Ausdruck Idee hat all­ge­mein­sprach­lich und im phi­lo­so­phi­schen Gebrauch unter­schied­li­che Bedeutungen. Allgemeinsprachlich ver­steht man dar­un­ter einen Gedanken, nach dem man han­deln kann, oder ein Leitbild, an dem man sich ori­en­tiert. Die phi­lo­so­phi­sche Bedeutung wur­de in der Antike von Platon und dem Platonismus geprägt. In jener Lehre sind Ideen unwan­del­ba­re, nur geis­tig erfass­bare Urbilder, die den sinn­lich wahr­nehm­ba­ren Phänomenen zugrun­de lie­gen. Dieses Ideenverständnis wirk­te bis in die Neuzeit nach, doch erhielt der Begriff „Idee“ in unter­schied­li­chen phi­lo­so­phi­schen Richtungen ver­schie­de­ne Inhalte.»

Und so erscheint die­se Idee eben auch in unter­schied­li­chen Formen. Hier als Setting, das «defi­ni­tiv ein sen­si­ble­res Publikum braucht», wie S. am 25. Mai 2017 grad vor der Mittagspause per E‑Mail geschrie­ben hat­te. «Nichts für ungut, sehr herz­lich», stand dort auch noch. Gewünscht hat­te ich mir etwas kon­struk­ti­ve Kritik, nicht nur «nichts für ungut». Und nun also «365 neue Seiten von dir!» – Jrene und Andrea haben defi­ni­tiv einen Weg und eine klar fass­ba­re Form gewählt, die leich­ter zugäng­lich ist. Bravo!

Analog statt digi­tal, hat­ten die bei­den Frauen betont. Auch dies könn­te ich sofort mit­un­ter­schrei­ben.

Am 1. März 2017 hat­te mir M. geschrie­ben, «Du soll­test mal ein Buch schrei­ben». So ein Werk wäre dann ana­log. Aber A., die Verlegerin hat­te mir (auch vor lan­ger Zeit) im Garten gesagt, aus Briefen kön­ne man kein Buch machen.

Und dann erschien 2022 «Wir haben es nicht gut gemacht», der Briefwechsel zwi­schen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Also geht es doch. Von einem der bekann­tes­ten Briefwechsel der Literaturgeschichte ist die Rede. So ist das mit den Ideen, sie gehen schon; man (oder frau) muss sie nur in Bewegung ver­set­zen. 😉

Was mache ich nun mit der Aufmunterung, was mache ich mit den 365 neu­en Tagen? Für den ersten Tag des nächs­ten Jahres, der Neujahrstag ist ein Mittwoch, geben sie einen ersten, posi­ti­ven Impuls:

Wofür bedan­ken sich Menschen häu­fig bei mir?

Was ich jetzt schon weiss: Ich wäre sehr dank­bar für eine Reaktion auf mei­nen Brief, einen rich­ti­gen ana­lo­gen Brief, den ich Dir am Montag zuge­schickt habe. Ich bat Dich, mein Projekt zu unter­stüt­zen – nicht «Briefe an F.», son­dern das, was ich als die Idee hin­ter die­sem Schreibrausch beschrei­be. Dies habe ich Dir geschrie­ben, weil ich nun mehr Ressourcen brau­che, um kon­kret han­deln zu kön­nen – eine inni­ge Bitte an Dich.

Jrene hat­te ich am Montag ein Feedback ver­spro­chen. Dies hat­ten sie sich wäh­rend der Präsentation gewünscht. Also, sie­he oben, lie­be Jrene. Und in einem Wort: Bravo!

Mit lie­ben Grüssen, auch an Jrene und Andrea!  ▬

F. schreibt am nächs­ten Morgen …

Danke für den Tipp. Und: Kalender ist bestellt. 🙂
Liebe Grüsse

PS: Schön, dass du wie­der schreibst!

Die Beschenkte

“ TWENTY YEARS FROM NOW YOU WILL BE MORE DISAPPOINTED BY THE THINGS THAT YOU DIDNʼT DO THAN THE ONES YOU DID DO. SO THROW OFF THE BOWLINES. SAIL AWAY FROM SAFE HARBOR. CATCH THE TRADE WINDS IN YOUR SAILS. EXPLORE. DREAM. DISCOVER.”

Mit die­sem Zitat hat­test Du mich heu­te ange­spro­chen, den Kontakt im Chat wie­der auf­ge­nom­men. Angetroffen hat­test Du mich auf hal­bem Weg. Ich lie­be die­se Art der Begegnung: Gedanken, die sich tref­fen, die erah­nen las­sen, dass es mehr gibt als die bewuss­te Absicht, als den ver­ein­bar­ten Plan und das, was zu tun ist. Es gibt ihn, den Raum im Kosmos, in dem «es» uns begeg­net, wenn der Moment gekom­men zu sein scheint …

Ich woll­te Dich ja an jenen Ort ein­la­den, an dem ich für Dich die Wander Society ent­deckt hat­te. Du schreibst: «Wir sind bereits im Kosmos.»

Ich gehe auf Dich zu, freue mich, Dich wie­der ein­mal zu sehen, zie­he mir die Mütze vom Kopf und weiss erst jetzt, war­um ich gezö­gert hat­te: Du hat­test Dich nicht gerührt. Nach kur­zem Blickkontakt mit etwas spit­zem Ton nur «Hallo», wor­auf ich Dich dann end­lich mit mei­ner Stimme grüs­se. Wir ent­span­nen uns. Du rührst Dich trotz­dem nicht. Ich erwäh­ne, ihn dort drü­ben bei den Büchern gese­hen zu haben. Ja, er und ich, wir hat­ten Blickkontakt. Es war nicht schwie­rig, ihn zu erken­nen und er wird mei­nen Blick wohl ent­zif­fert haben, mei­nen etwas prü­fen­den Blick. Du erwähnst, ihn infor­miert zu haben. Du rührst Dich nicht. Ich hät­te Dich ger­ne umarmt. Freundschaftlich. Worüber hast Du ihn infor­miert? Er wuss­te, dass ich kom­me, ja. Und sonst?

Meine Geschenke wür­den ihn stö­ren, sagst Du. Warum weiss er von mei­nen Geschenken, fra­ge ich mich jetzt. Erzählst Du ihm von den Geschenken oder von der Freude, die sie in Dir aus­lö­sen? «Lieb von Dir», hat­test Du geschrie­ben, als der klei­ne Engel früh­mor­gens vor der Türe auf Dich gewar­tet hat­te. Erzählst Du das auch? Erzählst Du es, weil Du Dich von ihm getrennt hat­test, wie Du vor eini­gen Wochen geschrie­ben hat­test? Würde es ihm denn bes­ser gehen ohne mei­ne Geschenke? Körperlich bes­ser? Seelisch bes­ser? Übrigens: mich stört, dass er Dir die Füsse mas­siert vor mei­nen Augen. Dies möch­te ich ja viel­leicht auch, Dir die Füsse mas­sie­ren. Würde es mir bes­ser gehen, er täte es nicht? Möchte er sich nicht vor­stel­len, auch einen Teil zu bekom­men von Deiner Freude an den Geschenken?

Was mir durch den Kopf geht: Hat er die Füsse an sich genom­men, als ich mir an der Bar das Getränk geholt hat­te? Oder hast Du sie ihm auf sei­ne Beine gelegt, um ein Zeichen zu set­zen, um zu sagen, ich gehö­re zu ihm? Geht es dar­um, wer zu wem gehört? Oder geht es um die Freude, die bleibt, die sich aus­brei­tet?

Ben Moore erzählt unter­des­sen, wie die neu­en Teleskope mit gol­de­nen Spiegeln nach den Signaturen der uns bekann­ten Form von Leben im Universum suchen. Bis in etwa 20 Jahren wür­den wir es ent­de­cken, das Leben aus­ser­halb unse­rer Erde, behaup­tet er zuver­sicht­lich. Aber erst Mitte die­ses Jahrhunderts wür­den wir dann ver­ste­hen, woher sie kommt, die­se Form des Lebens. Und in 50 Jahren hät­ten wir den Schlüssel zur Unsterblichkeit ent­deckt. Wollen wir auch die­ses Geschenk? Geht es uns dann bes­ser?

Ich lese spät­nachts den Artikel noch­mals, den mir K. ver­gan­ge­nes Jahr zuge­sandt hat­te: «Die Verantwortung der Beschenkten» von Christoph Quarch. Er schreibt, ursprüng­lich sei das Schenken und das Sich-beschenken-lassen ein Gespräch, eine Konversation, bei der ein Mensch einem ande­ren durch das Geschenk etwas Wesentliches sag­te, wor­auf der Beschenkte Antwort gab, aber nicht durch eine Gegenleistung, nicht durch einen Tausch und nicht durch Geld, son­dern ein­fach mit sei­nem Leben, mit sei­nem Tun und Lassen.

Was hast Du gesagt? Was stört ihn an unse­rem Gespräch, an unse­rer Konversation? Ich wer­de mir das Gespräch mit Dir nicht ver­bie­ten las­sen – aus­ser es stört Dich, aus­ser ich stö­re Dich in Deinem Tun und Lassen! Dann wer­de ich ver­stum­men und wei­ter­ge­hen auf mei­ner eige­nen Wanderung. So hat­ten wir es ver­ein­bart. Solange die Vereinbarung gilt, solan­ge trägst Du Verantwortung. Du bist die Beschenkte.

Mit lie­ben Grüssen, auch an ihn!  ▬

PS:

Liebe S., hier hast Du eine Antwort auf jene Frage, die Du vor Monaten gestellt hat­test, die Frage, was er soll, die­ser «Schreibrausch»:
Dieses Projekt soll mir den Blick schär­fen. Es soll klä­ren. Es soll mich hüten vor vor­ei­li­gen Schlüssen. Es soll Fragen stel­len. Und es soll mich immer wie­der ermu­ti­gen, neu begeg­nen zu kön­nen: to explo­re, to dream and to dis­co­ver!
Und gelingt es mir, so mag es dem Lesenden als Geschenk dazu ver­hel­fen, es – das Schreiben – auch zu ver­su­chen; dies hof­fe ich!

Talking Letter Box

Guten Abend lie­be F.

«Beautiful octo­ber» schreibst Du im Chat. Es ist ein mil­der, son­ni­ger Tag, den ich oben spa­zie­rend auf dem Planetenweg zur Felsenegg begon­nen habe. Du gehst, wie ges­tern, Deinen Weg unten in der Stadt, am Hirschengraben. Dein Bild als Antwort auf mein Bild hat es mir erzählt. Und die Aufeinanderfolge von Bildern und Worten schien mir so klä­rend zu sein, dass ich auf dem Rückweg dach­te, die­se Gedanken könn­ten es wert sein, wie­der ein­mal hier auf­zu­tau­chen.

Mit ein Grund, in den ver­gan­ge­nen Wochen gegen­über einer mir nicht bekann­ten Leserschaft Zurückhaltung zu üben war sicher auch die Reaktion einer in Zürich gut ver­netz­ten Autorin: «Also, ich habe es ver­sucht, mehr­fach, min­des­tens vier mal drei Minuten, aber ich kom­me da nicht rein! Beziehungsweise ich ver­ste­he a) nicht, was das Projekt will (das wün­sche ich mir in drei Sätzen, ganz am Anfang und ganz klar, nicht in vie­len aus­führ­li­chen Punkten) und an wen es sich rich­tet. Ist es fik­tiv? Ist es dein Tagebuch? Ist es eine Art von Therapieanordnung? Und was soll ich als Leserin dar­in zu suchen haben? Wahrscheinlich bin ich ein­fach zu doof dazu. Und von mei­ner Natur her viel zu unge­dul­dig. Du brauchst defi­ni­tiv ein sen­si­ble­res Publikum, als ich das bin. Nichts für ungut, sehr herz­lich, S.» Gelesen hat­te sie die Idee zu die­sem «Schreibrausch», die ich unter­des­sen auch schon bei­na­he ganz ver­bor­gen habe, viel­leicht, um mich für den Moment zu schüt­zen, Raum zu schaf­fen für neu­en Mut, den Mut dazu, eben nicht zu wis­sen, was es genau will, an wen es sich rich­tet, wel­che offen­sicht­li­che Form es ein­mal fin­den könn­te. Ich fin­de S. übri­gens über­haupt nicht doof oder zu doof, wenn, dann ab und an etwas zu selbst­be­zo­gen, aber dies gehört wohl bei­na­he zwin­gend zum Beruf eines Menschen, der sich ger­ne und häu­fig in sozia­len Medien zeigt, sich selbst vir­tu­ell auf die Bühne stellt. Ich den­ke heu­te, es war rich­tig, auf jenes Mail nicht geant­wor­tet zu haben, kei­ne Rechtfertigung gesucht zu haben und eben ein­fach die Zeit Wunden hei­len zu las­sen. Ja, ich war damals, mehr als vier Monate ist es jetzt her, ver­un­si­chert, irri­tiert; der Nächstenliebe beraubt schien ich mir und mir mein Projekt zu sein. So hat­te ich Dir wie­der per­sön­lich geschrie­ben, mei­ne Zuneigung auch wie­der als Brot in Deinen Kasten mit jener klei­nen Tür gelegt, die sich immer wie­der ganz von selbst öff­net, als woll­te Deine Letter Box das klei­ne Geheimnis gleich wie­der preis­ge­ben, in die Welt rufen, «er hat es wie­der getan, schaut her, er kann und will es nicht blei­ben las­sen». Ja, der klei­ne metal­le­ne Kasten hät­te mich war­nen sol­len. «Schau her, dies ist die Grenze, da wo ich unver­rück­bar ste­he, bis hier­hin und nicht wei­ter! Hörst Du mich?»

Gefühlt hat­te ich es mit jedem Schritt hin­ter die­se «spre­chen­de» Box nach jenem Besuch im März, wenn ich manch­mal bei Deinem Haus vor­bei­ging mit Blumen oder was immer, dem Impuls fol­gend, wenn Du, wie ich wohl­weis­lich wuss­te, nicht zu Hause warst. Damals im März bist Du mir ent­ge­gen­ge­kom­men, hast mich mit einer Umarmung will­kom­men­ge­heis­sen. Es war nicht unbe­schwert, der mor­gend­li­che Mail-Verkehr muss­te klä­ren und vor­be­rei­ten, aber es war auch ein­fach Frühling und ein Moment, um etwas aus­zu­pro­bie­ren und mit weni­ger wenn und aber in den Sommer zu star­ten. Dann muss­te es gesche­hen, an einem Freitagabend, als Herbstbeginn und Rückzug. Ich sei respekt­los und hät­te eine Grenze über­schrit­ten, hat­test Du gesagt und auf Rückfrage schrift­lich nach­ge­dop­pelt, nach­dem ich mit einer Blume, die Gedanken an ein Phallussymbol auf­kei­men liess, gleich­zei­tig mit dem Pizzakurier vor Deiner Türe mei­ne Aufwartung mach­te. Sehr attrak­tiv hast Du aus­ge­se­hen, so im Trainer und mit Maske im Haar, hat­te ich danach geschrie­ben und dafür ein «Danke!» samt zwin­kern­dem Smiley erhal­ten. Aber die Grenze war über­schrit­ten und auch jetzt hät­te ich auf jede Rechtfertigung und Begründung wohl bes­ser ver­zich­ten sol­len. Ich hat­te es ja «gewusst» – Du wür­dest wohl sagen, ich hät­te nicht zuge­hört, Dir nicht, von mei­nem Zwiegespräch mit Deinem klei­nen Kasten hat­test Du ja nichts wis­sen kön­nen. Ich höre Dir immer zu, wid­me jedem Wort und jeder Zeile von Dir gros­se Aufmerksamkeit, muss­te aber die­se Grenze über­schrei­ten, um mir selbst treu zu sein, um mei­nem Gefühl Respekt zu zol­len. Wir sind anschei­nend erfah­ren und ver­traut genug, um den Dialog fort­zu­füh­ren. Ich dan­ke Dir!

Der Soziologe sag­te heu­te im Interview: «Manchmal rücken wir etwas weg, weil es uns nah ist. Und umge­kehrt. Zudem braucht Nähe immer wie­der Distanz und neue Impulse.» Ja, über Nähe und Distanz hat­ten wir uns auch schon aus­ge­tauscht. Und über Begrifflichkeit. Bist Du gesagt hat­test, Freundschaft müs­se nicht dis­ku­tiert werden. Einverstanden, sie muss nicht dis­ku­tiert werden, wir könn­ten uns aber dar­über aus­tau­schen, was es heisst, «inter­es­sant, inter­es­siert und lie­bens­wür­dig zu sein». «Es war mir nicht klar, dass es für Dich so ein gros­ses Thema ist, das mit Dir und mir.» Soll es Dir denn klar sein? Ich stel­le sel­ten rhe­to­ri­sche Fragen. Was nicht heisst, wir hat­ten dies vor lan­ger Zeit ver­ein­bart, dass eine Frage zwin­gend beant­wor­tet werden muss. Fragen sol­len inspi­rie­ren, kei­ner Freiheit berau­ben. Ja, Du und ich oder ein­fach der Dialog ist mir ein gros­ses Thema, ein wert­vol­les Gut, dem ich hier ja auch «eine Bühne» gege­ben habe.

Zwei Worte, die mir begeg­net sind: Verbindung und Schnittstelle. Ich hat­te Dir spät­abends geschrie­ben, «Verbundenheit ist der Grund, war­um wir hier sind» und damit Brené Brown zitiert. Du schreibst, «so kann man Geschlechtsverkehr auch nen­nen, ja». Ich erwi­de­re, «wie bit­te?!?» – und konn­te herz­haft lachen. Du hast uns die Leichtigkeit zurück­ge­ge­ben. Auf «Gute Nacht» folg­te wie­der «Guten Morgen».

Heute fra­ge ich, «d.h. Du hast am See über­nach­tet?!?», wor­auf Du ant­wor­test, «abge­se­hen davon, dass Dich das nichts angeht, nein.» Ich erwäh­ne, ich hät­te nur nach dem Ort gefragt und nicht nach einer «Verbindung», wor­auf Du sagst, das eine lies­se meis­tens aufs Andere schlies­sen… Was ist «das Andere»? Ist Sexualität die Form der Verbindung, nach der ich ver­meint­lich gefragt hat­te? Sind Blumen, Brot und Briefe die Vorboten zur «Verbindung»? Sind Mann und Weib dazu bestimmt? So oder so? Ich möch­te sie nicht, die­se «Verbindung», nicht mit Dir. Deine Stimme, die Du mir schenkst, mit der Du mir damals kurz vor Abfahrt des Zuges auf Perron 4 vor­ge­le­sen hat­test, sie ist mir Erotik genug. Deine Augen, die mir durch ein Fenster vor dem Kino-Besuch ent­ge­gen­la­chen, die Ahnung eines Geruches ist mir Freude und Genuss genug. Sie erlau­ben kei­ne Erlösung, kei­nen Höhepunkt. Nur der Zauber, das Geheimnis las­sen die Lebendigkeit aus­dau­ernd wir­ken. Ich will hier und im Dialog eine Schnittstelle mit Dir und zu Dir pfle­gen, kei­ne Verbindung, die bin­det.

Ich wün­sche Dir einen wun­der­schö­nen Sommerausklang!  ▬

in zwei Welten

«…so dass wir den Kopf frei haben», hat­te mir C. wäh­rend sei­nem Crowdfunding für die Republik geschrie­ben. Lange hat­te ich dar­über nach­ge­dacht, wie er das wohl meint. Frei wofür? Und wie? Die Rede war von Facebook, von mei­ner Hassliebe zum gros­sen sozia­len Netzwerk und davon, dass sie dort in jenem Schreibprojekt auf Werbung ver­zich­ten wol­len und doch in den von Werbung geflu­te­ten Timelines so omni­prä­sent sind wie Katzenbilder, Food Porn und all die exo­ti­schen Strände, die ich gar nicht sehen will. Denn «das, was du weisst, ver­än­dert das, was du siehst» – oder für die­sen Fall: Das, was du siehst, ver­än­dert das, was du zu wis­sen glaubst.

Am 14. Mai hat­te ich die­se Zeilen an Dich begon­nen, lie­be F., denn auch ich woll­te irgend­wie den Kopf frei haben. Mehr als zwei Monate sind seit­her ver­gan­gen und ich hat­te ihn sel­ten frei, den Kopf. Bis heu­te. Heute hat sich etwas geklärt in mei­nem Kopf, an einem Sonntag im Juli ohne viel Sonne, dafür innen auf­ge­hellt. «Wieso hin­ter­fragst du stän­dig?», hat­test Du die­se Tage geschrie­ben auf mei­ne Frage, wer ich denn sei, die­ses Ich, dort bei Dir. Je län­ger wir uns geschrie­ben haben, des­to rat­lo­ser wur­de ich, wenn Deine Antworten nicht in mein Bild pas­sen woll­ten vom Leben, von Existenz und Existenziellem. Ich glau­be, seit heu­te ein bes­se­res Gefühl für die ver­meint­lich gemein­sa­me Sphäre zu haben, die sich mit uns erschaf­fen hat. Es sind zwei Welten. Es sind zwei Erfahrungswelten. C. kennt sie, mei­ne Erfahrungswelt, auf jeden Fall jene aus Beruf und Berufung. Du wirst sie nie ken­nen, nie ken­nen müs­sen. Das ist gut so. Es hält Dir den Kopf frei.

Über das Tom-Waits-Gefühl hat­ten wir geschrie­ben und dann gespro­chen nach unse­rem Kino-Besuch. Danke noch­mals, hat gut getan! Ich hat­te ja wie­der und wie­der ver­sucht, ihn zu erklä­ren, die­sen «Tommy», wie Du ihn nennst, ver­sucht, ihn mit uns in Verbindung zu brin­gen. Doch Tom ist nicht Tommy!

Als Du Tage zuvor gefragt hat­test, «was ist denn bei Dir das eigent­li­che Problem? Deine Vergangenheit? Das Jetzt? Die Zukunft?», da hat­te ich ein­mal mehr mit mir gerun­gen und erklärt und Rechtfertigungen gesucht für das «eigent­li­che Problem». Ich fra­ge dann nach einem Schreib-Thema und Du sagst am ande­ren Morgen im Chat, «…nun, wie wärs mit: was sind die Probleme der/des Menschen im Vergleich mit der Grösse des Kosmos und der kur­zen Zeitspanne, die er auf Erden lebt?» – ich sage noch: Dieses Thema traust Du mir zu? Und erklä­re wie­der: Ich sehe den Baum da draus­sen, den ich gepflanzt habe. Ich stau­ne ab der Grösse und der wagen Vorstellung, dass er, eine Sequoia gigan­te­um, mich um vie­le hun­dert Jahre wird über­le­ben kön­nen, wenn man ihn in Ruhe lässt. ER ist Teil mei­nes Kosmos… Ich wer­de es ver­su­chen mit jenem Kosmos, an den Du wohl denkst – und den­ke doch immer wie­der, auch jetzt, es geht um Nähe und Distanz, auch bei Dir! Du, Minuten spä­ter: «Ich mei­ne damit die­se doo­fen all­täg­li­chen und v.a. Luxusproblemchen der Menschen.» Da war ich am Ende, das Verständnis am Ende. Ich soll Dir Menschen mit Luxusproblemen erklä­ren? Was haben sie (und jene Menschen) mit mei­nem eigent­li­chen Problem zu tun? Ich war rat­los. Bis heu­te, bis Du schreibst…

«Hey, der muss auch zu sei­nem Geld kom­men!» (jener mit Deiner Erfahrungswelt aus Beruf und Berufung) und «Tja, Vooorsicht bei der Berufswahl!», mit­samt dem augen­zwin­kern­den Smiley. Da ver­stand ich, denn: Ich hat­te kei­ne Wahl, kei­ne Berufswahl. Jene Wahl war und ist mei­ne Sehnsucht, mei­ne Berufung, wie ich noch heu­te den­ke und glau­be. Ich hat­te es wie­der und wie­der erzählt und ange­nom­men, Du wür­dest dann ver­ste­hen, von wel­cher Realität ich spre­che. Weil es zwei Welten sind, ist Nähe und Distanz wohl auch Dein und mein Thema, aber jedem von uns auf sei­ne Art (auch gut, so kön­nen wir uns etwas erzäh­len aus den Welten). Du hast kei­ne Sehnsucht nach jener Wahl, weil Du in ihr lebst, in jener Welt. Also stimmt wohl auch: Das, was du kennst, ver­än­dert das, was du denkst, das, wonach du fragst und haupt­säch­lich und vor allem das, was du ver­stehst. Ich ken­ne sie nicht, jene Welt. Ich sehe sie in Dir und mit Dir und mache mir ein Bild, das mich den­ken lässt, Du könn­test mich ver­ste­hen. Du hast wohl ein Bild mei­ner Sehnsucht, das Dich fra­gen lässt nach «dem eigent­li­chen Problem», nach Vergangenheit, nach dem Jetzt und der Zukunft und nach dem Sinn von Luxusproblemen. Dass Dein Nachbar mei­ne Welt kennt hat mich erst noch dar­in bestärkt, glau­ben zu wol­len, Du wür­dest mich ver­ste­hen. Nur: Er hat­te viel­leicht die Wahl und dar­um kei­ne Sehnsucht. Sehnsucht macht den Kopf nicht frei. Sehnsucht setzt sich hin im Kopf und war­tet dar­auf, ver­stan­den und befreit zu werden. Und so benutzt das Ich Namen wie Tom oder Tommy und denkt, das Du wis­se dann, wer und was gemeint ist.

«Der Mensch wird am Du zum Ich», ein Zitat des Philosophen Martin Buber, habe ich die­sem Gefäss ein­mal als Motto gege­ben. Es ist mir lieb und gleich­zei­tig zum Verhängnis gewor­den, weil ich gehofft hat­te, jenes Du hät­te etwas zu tun mit der Sehnsucht, die in mei­nem Kopf sitzt. Jetzt ver­ste­he ich es bes­ser: Die Sehnsucht bin nicht ich. Sie sitzt ein­fach da. Und ich bin nicht frei im Kopf. So stimmt es also doch, wenn Du sagst, ich wür­de in ers­ter Linie für mich schrei­ben. So gese­hen schrei­be ich Dir, weil die Sehnsucht mich gezwun­gen hat, Dir (die­sem Bild in mir von Dir) für sich zu schrei­ben. Und sonst? Wer ich denn sei, Ich bei Dir? Du sagst: «en lie­be Cheib». Ja, das bin ich. Und sonst? Wie befreie ich den Kopf, so dass ich nicht mehr hin­ter­fra­ge, nicht mehr fra­ge, son­dern eben mein Ich lebe?

Es habe mit Initiation zu tun, was ich hier trei­be, sag­te A. nach sei­ner Führung durch den «Schreibrausch» im Strauhof. Er war mir auf der Spur. Es geht nicht dar­um, die Wahl zu haben, es geht dar­um, zu leben, was das Leben gewählt hat.

Ich hof­fe, Du magst es dann, die­ses Ich.  ▬

sich fremd werden

Du bist jetzt über den Wolken und kommst mit neu­en Eindrücken zurück in den Schnee aus der Kälte im hohen Norden. Ich sei der Spinner, hat­test Du noch geschrie­ben. Aber weisst Du, lie­be F., ich habe Dich ver­misst, ganz ohne Alltag und doch nicht fremd. «Guten Morgen» habe ich ver­misst und «gute Nacht».

Mehr Einsicht ist mir begeg­net über die­se Ostertage, die­se scheint mir wich­tig: «Damit sind sie beson­ders auf ande­re Menschen ange­wie­sen, die ihnen Sicherheit geben; wenn das nicht pas­siert, etwa weil die Eltern emo­tio­nal nicht aus­rei­chend ver­füg­bar waren, ent­wi­ckeln sie ein höhe­res Risiko für die Erkrankung.»

60 Tage ist es her: «Ich bin sehr dar­an inter­es­siert, mit Dir dar­über zu spre­chen. Ich habe sonst nie­mand, der sich dazu eig­net.» Du woll­test mehr erfah­ren über Animus und Anima …

Definitiv, hat­test Du gesagt, dann war ich in den Wolken, nicht uner­reich­bar, mir aber ziem­lich fremd. Zu schla­fen, sei jetzt wich­tig, hat man mir gesagt und gleich nach­ge­hol­fen, zuerst sanft, dann ziem­lich vehe­ment. So hat­te ich geschrie­ben, die Liebe sei nicht fer­tig, aber wohl am Ende. Schade, den­ke ich jetzt. Nun, viel­leicht habe ich ja eine zwei­te Chance, pas­send grad zu Ostern.

«Auch mir kannst Du Fragen stel­len. Was immer Du willst.» Darf ich wie­der, oder immer noch? Sind wir uns wirk­lich fremd?

«Es ist bekannt, dass Depersonalisation in indi­vi­dua­lis­ti­schen Gesellschaften wie der unse­ren viel häu­fi­ger vor­kommt als in kol­lek­ti­vis­ti­schen wie in Lateinamerika. Man erklärt das so, dass in indi­vi­dua­lis­ti­schen Gesellschaften der Einzelne weit mehr tun muss, um sozia­le Kontakte zu knüp­fen, um Geborgenheit zu erle­ben.» Dies stand an ande­rer Stelle.

Wenn nicht Lateinamerika, dann doch Wien – dort geht der “Schreibrausch” hin. Und weil ich Dich wie­der fra­gen will, und den Austausch will ich auch, «via Mail oder via Treffen. Beziehungsweise und/oder…», so ist das jetzt, nun auch mit mir.

Die Nahrungskette war abge­bro­chen, kommt es mir vor, ich muss­te wie­der­käu­en, wie das Reh, nur wei­ter oben, dort am Tor, an der Grenze zum bewuss­ten Sein, von mor­gens früh bis abends spät. So blieb ich still, bis auf den Chat mit Dir, dort war ich wirr, mir etwas fremd.

Bin jetzt in guten Händen. Sie ist jung, lacht schel­misch, herz­haft: «Ich weiss, wie du dich fühlst.» Ein Sonnenschein. «Ob ich mich in sie ver­lie­ben könn­te?», das hat mich noch kei­ne gefragt, das ist Brot für die Seele, wie das Lieblingsbild von Dir!

Lass uns die­se Kunst ver­su­chen. Davon leben kann man nicht, aber Nahrung ist es alle­mal. Ob hier, dort oder in Wien, auf jeden Fall mit Dir und gar nicht fremd. Hauptsache, die Kette reisst nicht ab, so geht es allen bes­ser, nicht nur Dir und mir.

Ich dan­ke Dir!  ▬