Talking Letter Box

Guten Abend lie­be F.

«Beautiful octo­ber» schreibst Du im Chat. Es ist ein mil­der, son­ni­ger Tag, den ich oben spa­zie­rend auf dem Planetenweg zur Felsenegg begon­nen habe. Du gehst, wie ges­tern, Deinen Weg unten in der Stadt, am Hirschengraben. Dein Bild als Antwort auf mein Bild hat es mir erzählt. Und die Aufeinanderfolge von Bildern und Worten schien mir so klä­rend zu sein, dass ich auf dem Rückweg dach­te, die­se Gedanken könn­ten es wert sein, wie­der ein­mal hier auf­zu­tau­chen.

Mit ein Grund, in den ver­gan­ge­nen Wochen gegen­über einer mir nicht bekann­ten Leserschaft Zurückhaltung zu üben war sicher auch die Reaktion einer in Zürich gut ver­netz­ten Autorin: «Also, ich habe es ver­sucht, mehr­fach, min­des­tens vier mal drei Minuten, aber ich kom­me da nicht rein! Beziehungsweise ich ver­ste­he a) nicht, was das Projekt will (das wün­sche ich mir in drei Sätzen, ganz am Anfang und ganz klar, nicht in vie­len aus­führ­li­chen Punkten) und an wen es sich rich­tet. Ist es fik­tiv? Ist es dein Tagebuch? Ist es eine Art von Therapieanordnung? Und was soll ich als Leserin dar­in zu suchen haben? Wahrscheinlich bin ich ein­fach zu doof dazu. Und von mei­ner Natur her viel zu unge­dul­dig. Du brauchst defi­ni­tiv ein sen­si­ble­res Publikum, als ich das bin. Nichts für ungut, sehr herz­lich, S.» Gelesen hat­te sie die Idee zu die­sem «Schreibrausch», die ich unter­des­sen auch schon bei­na­he ganz ver­bor­gen habe, viel­leicht, um mich für den Moment zu schüt­zen, Raum zu schaf­fen für neu­en Mut, den Mut dazu, eben nicht zu wis­sen, was es genau will, an wen es sich rich­tet, wel­che offen­sicht­li­che Form es ein­mal fin­den könn­te. Ich fin­de S. übri­gens über­haupt nicht doof oder zu doof, wenn, dann ab und an etwas zu selbst­be­zo­gen, aber dies gehört wohl bei­na­he zwin­gend zum Beruf eines Menschen, der sich ger­ne und häu­fig in sozia­len Medien zeigt, sich selbst vir­tu­ell auf die Bühne stellt. Ich den­ke heu­te, es war rich­tig, auf jenes Mail nicht geant­wor­tet zu haben, kei­ne Rechtfertigung gesucht zu haben und eben ein­fach die Zeit Wunden hei­len zu las­sen. Ja, ich war damals, mehr als vier Monate ist es jetzt her, ver­un­si­chert, irri­tiert; der Nächstenliebe beraubt schien ich mir und mir mein Projekt zu sein. So hat­te ich Dir wie­der per­sön­lich geschrie­ben, mei­ne Zuneigung auch wie­der als Brot in Deinen Kasten mit jener klei­nen Tür gelegt, die sich immer wie­der ganz von selbst öff­net, als woll­te Deine Letter Box das klei­ne Geheimnis gleich wie­der preis­ge­ben, in die Welt rufen, «er hat es wie­der getan, schaut her, er kann und will es nicht blei­ben las­sen». Ja, der klei­ne metal­le­ne Kasten hät­te mich war­nen sol­len. «Schau her, dies ist die Grenze, da wo ich unver­rück­bar ste­he, bis hier­hin und nicht wei­ter! Hörst Du mich?»

Gefühlt hat­te ich es mit jedem Schritt hin­ter die­se «spre­chen­de» Box nach jenem Besuch im März, wenn ich manch­mal bei Deinem Haus vor­bei­ging mit Blumen oder was immer, dem Impuls fol­gend, wenn Du, wie ich wohl­weis­lich wuss­te, nicht zu Hause warst. Damals im März bist Du mir ent­ge­gen­ge­kom­men, hast mich mit einer Umarmung will­kom­men­ge­heis­sen. Es war nicht unbe­schwert, der mor­gend­li­che Mail-Verkehr muss­te klä­ren und vor­be­rei­ten, aber es war auch ein­fach Frühling und ein Moment, um etwas aus­zu­pro­bie­ren und mit weni­ger wenn und aber in den Sommer zu star­ten. Dann muss­te es gesche­hen, an einem Freitagabend, als Herbstbeginn und Rückzug. Ich sei respekt­los und hät­te eine Grenze über­schrit­ten, hat­test Du gesagt und auf Rückfrage schrift­lich nach­ge­dop­pelt, nach­dem ich mit einer Blume, die Gedanken an ein Phallussymbol auf­kei­men liess, gleich­zei­tig mit dem Pizzakurier vor Deiner Türe mei­ne Aufwartung mach­te. Sehr attrak­tiv hast Du aus­ge­se­hen, so im Trainer und mit Maske im Haar, hat­te ich danach geschrie­ben und dafür ein «Danke!» samt zwin­kern­dem Smiley erhal­ten. Aber die Grenze war über­schrit­ten und auch jetzt hät­te ich auf jede Rechtfertigung und Begründung wohl bes­ser ver­zich­ten sol­len. Ich hat­te es ja «gewusst» – Du wür­dest wohl sagen, ich hät­te nicht zuge­hört, Dir nicht, von mei­nem Zwiegespräch mit Deinem klei­nen Kasten hat­test Du ja nichts wis­sen kön­nen. Ich höre Dir immer zu, wid­me jedem Wort und jeder Zeile von Dir gros­se Aufmerksamkeit, muss­te aber die­se Grenze über­schrei­ten, um mir selbst treu zu sein, um mei­nem Gefühl Respekt zu zol­len. Wir sind anschei­nend erfah­ren und ver­traut genug, um den Dialog fort­zu­füh­ren. Ich dan­ke Dir!

Der Soziologe sag­te heu­te im Interview: «Manchmal rücken wir etwas weg, weil es uns nah ist. Und umge­kehrt. Zudem braucht Nähe immer wie­der Distanz und neue Impulse.» Ja, über Nähe und Distanz hat­ten wir uns auch schon aus­ge­tauscht. Und über Begrifflichkeit. Bist Du gesagt hat­test, Freundschaft müs­se nicht dis­ku­tiert werden. Einverstanden, sie muss nicht dis­ku­tiert werden, wir könn­ten uns aber dar­über aus­tau­schen, was es heisst, «inter­es­sant, inter­es­siert und lie­bens­wür­dig zu sein». «Es war mir nicht klar, dass es für Dich so ein gros­ses Thema ist, das mit Dir und mir.» Soll es Dir denn klar sein? Ich stel­le sel­ten rhe­to­ri­sche Fragen. Was nicht heisst, wir hat­ten dies vor lan­ger Zeit ver­ein­bart, dass eine Frage zwin­gend beant­wor­tet werden muss. Fragen sol­len inspi­rie­ren, kei­ner Freiheit berau­ben. Ja, Du und ich oder ein­fach der Dialog ist mir ein gros­ses Thema, ein wert­vol­les Gut, dem ich hier ja auch «eine Bühne» gege­ben habe.

Zwei Worte, die mir begeg­net sind: Verbindung und Schnittstelle. Ich hat­te Dir spät­abends geschrie­ben, «Verbundenheit ist der Grund, war­um wir hier sind» und damit Brené Brown zitiert. Du schreibst, «so kann man Geschlechtsverkehr auch nen­nen, ja». Ich erwi­de­re, «wie bit­te?!?» – und konn­te herz­haft lachen. Du hast uns die Leichtigkeit zurück­ge­ge­ben. Auf «Gute Nacht» folg­te wie­der «Guten Morgen».

Heute fra­ge ich, «d.h. Du hast am See über­nach­tet?!?», wor­auf Du ant­wor­test, «abge­se­hen davon, dass Dich das nichts angeht, nein.» Ich erwäh­ne, ich hät­te nur nach dem Ort gefragt und nicht nach einer «Verbindung», wor­auf Du sagst, das eine lies­se meis­tens aufs Andere schlies­sen… Was ist «das Andere»? Ist Sexualität die Form der Verbindung, nach der ich ver­meint­lich gefragt hat­te? Sind Blumen, Brot und Briefe die Vorboten zur «Verbindung»? Sind Mann und Weib dazu bestimmt? So oder so? Ich möch­te sie nicht, die­se «Verbindung», nicht mit Dir. Deine Stimme, die Du mir schenkst, mit der Du mir damals kurz vor Abfahrt des Zuges auf Perron 4 vor­ge­le­sen hat­test, sie ist mir Erotik genug. Deine Augen, die mir durch ein Fenster vor dem Kino-Besuch ent­ge­gen­la­chen, die Ahnung eines Geruches ist mir Freude und Genuss genug. Sie erlau­ben kei­ne Erlösung, kei­nen Höhepunkt. Nur der Zauber, das Geheimnis las­sen die Lebendigkeit aus­dau­ernd wir­ken. Ich will hier und im Dialog eine Schnittstelle mit Dir und zu Dir pfle­gen, kei­ne Verbindung, die bin­det.

Ich wün­sche Dir einen wun­der­schö­nen Sommerausklang!  ▬